Sonntag, 24. Mai 2020

Episode 1 - Annas Kindheit - 1904 bis 1914

"Ich kann mich nie erinnern, daß Großmutter gejammert hätte, wir waren sehr zufrieden..."


Annas Geburtshaus (Foto privat mit freundlicher Genehmigung)

21. April 1986


Auf Wunsch meiner Enkelin Veronika möchte ich einige Zeilen aus meinem Leben niederschreiben!

Geboren bin ich am 17. Februar 1904, ich war ein ganz und gar unerwünschtes Kind. Meine Mutter war erst 19 Jahre alt, der Vater war 20 Jahre als ich geboren wurde. Als ich geboren war sollte der Vater Alimente zahlen, er bekannte sich nicht als Vater, so riß er aus. Großvater erlaubte nicht, daß mich Großmutter annahm, so nahm mich Vaters Schwester in Schwertberg. 

Großmutter ließ es keine Ruhe, sie besuchte mich nach ein paar Wochen. Sie erzählte mir oft, es bot sich ihr ein schreckliches Bild. Sie sagte mir oft, die hätten dich "abgefüttert", das heißt ich hätte nicht lange durchgehalten. Sie ging weinend heim und zu der Bäurin, wo Mutter im Dienst war, der erzählte sie unter Tränen, wie ich aussah. Die Bäurin schickte Mutter sofort hin um mich zu holen.

Großvater wurde überredet, so konnte ich bei Großmutter sein, aber sie waren ja sehr arm, von Vater wußte niemand wo er war. Mutter müße auch für ihn Alimente zahlen, ihr Lohn war monatlich 5 Gulden, und 6 Gulden hätte sie für beide (Kindseltern, Anm.) bezahlen müssen. Ihr blieb drei Jahre kein Kreuzer, nur wenn der Bauer ein Stück Vieh oder Schweindl verkaufte, dann war es Brauch, daß er ein kleines Trinkgeld ("Leuthkauf" nannte man das), der Magd gab, das war ihr ganzes Geld. 

Nach drei Jahren wurde Vater entdeckt, er fing in Linz in der Tabakfabrik an, dann mußte er 3 Gulden zahlen, die Bäurin kaufte vorher Mutter ein Paar Schuhe, sie hat sich weder Gewand noch Schuhe kaufen können. Großmutter ging zu den Bauern auch immer arbeiten, besonders den ganzen Sommer. 

Als ich zur Schule kam, musste ich sehr oft allein sein, oder ich ging nach der Schule zum Bauer, das war auch nicht immer gut. Auch mußte ich mit der Großmutter oft, sehr oft, Holzklauben gehn, sie hat ja das ganze Holz am Kopf heimgetragen, auch mir hat sie immer ein Bündl hergerichtet, mußte es auch am Kopf nehmen. Mutter kam meistens an einem Sonntag und sparte ein paar Stückerl Fleisch, was sie zur Jause bekam. Großmutter kaufte nie Fleisch, da reichte das Geld nie. Doch wenn ich jetzt oft denke, ich kann mich nie erinnern, daß Großmutter gejammert hätte, wir waren sehr zufrieden.

Wo ich jetzt oft daran denke, Weihnachten hatte ich nie einen Christbaum. Am heiligen Abend kam das goldene Rößl, sagte man damals, da durfte ich eine Schüssel oder ein Körberl vor die Tür stellen. In der Früh am Weihnachtstag waren in der Schüssel einige Äpfel, eine Orange, ein oder zwei Stück Lebkuchen und ein Stück Gerstenschleim, so nannte man diese Süßigkeit - da war ich ganz selig!

Ich weiß noch, als ich schon ein paar Jahre in die Schule ging, mußten wir einen Aufsatz über das Christkind schreiben. Ich dachte, der schönste Aufsatz sei, wenn ich recht angebe. Ich schrieb einen langen Aufsatz, was ich alles bekommen hab, vor allem eine schöne Puppe, ach Gott was hab ich da zusammengelogen...

In der Schule war ich sehr gut, ich habe meine Lehrer sehr geliebt, besonders ein Fräulein Seiberl. Da hab ich furchtbar geweint, sie ging einige Monate weg, dann kam sie wieder.

Meine Stärke war Aufsatz schreiben, lesen und Religion. Zeichnen konnte ich nicht, da hatte ich die ganzen sechs Jahre nie einen Einser. Auch in Handarbeit hatte ich nie eine gute Note, wir hatten eine Klosterfrau, die mochte mich leider nicht.

Als ich acht Jahre alt war, heiratete mein Vater. Da kam er zur Großmutter und sagte, er wolle mich holen, er schaut sich jetzt um mich um. Das weiß ich noch heute, ich schrieb gerade auf der Tafel meine Schulaufgaben. Er brachte mir viele Süßigkeiten, ich war ganz begeistert davon. Großmutter schickte mich zur Mutter, sie war nicht weit entfernt, ich soll sie holen. Ich hab ihr gesagt, daß Vater hier ist, er will mich haben. Sie war sehr erbost und sagte, er hat sich bis heute nicht gekümmert, ich mag ihn nie mehr sehen - so war die Angelegenheit erledigt.

Er hat eine recht nette Frau geheiratet, er hat sich dann mehr gekümmert um mich. Als ich zur Erstkommunion kam, schrieb er Großmutter, sie soll mit mir - das Datum weiß ich nicht mehr - nach Tragwein kommen, dort lebte nämlich seine Mutter. Wir gingen von Ried in der Riedmark nach Tragwein, bei seiner Mutter trafen wir Vater und seine Frau, da bekam ich ein wunderbares weißes Kleid und eine schöne Schürze, so was Schönes hatte ich noch nie gesehn. Das kann ich nicht beschreiben, wie glücklich ich war! Ich war ja in der Schule immer das ärmste Kind. Ich weiß noch heute, Großmutter sagte, das kannst du ja nicht anziehn, was werden die Leute sagen.

Es dauerte nicht lange, dann kam der erste Weltkrieg...


Nächste Episode: 


Prolog


Die Geschichte der Anna Pernerstorfer (Bild: privat)

Heute vor 100 Jahren, am Montag, den 24. Mai 1920, spielte sich im beschaulichen Ried in der Riedmark im oberösterreichischen Mühlviertel folgende dramatische Begebenheit ab: Theresia Pernerstorfer, 36 Jahre alt, war zu Besuch bei ihrer Mutter, um ihre sechzehnjährige Tochter Anna zu besuchen, die bei ihrer Großmutter aufwuchs. Nachdem sie einige Zeit zusammen verbracht hatten, verabschiedete sich Theresia von ihrer Tochter mit den sonst unüblichen Worten "Pfiat di Gott, und bleib brav!" Danach machte sie sich auf den Heimweg in Richtung Schloss Marbach, wo sie als Dienstmagd lebte und arbeitete. Doch dort sollte sie nie ankommen - sie erlitt auf dem Weg dahin in der Nähe des Riedbergergutes einen epileptischen Anfall, fiel auf den Mund und erstickte grausam.

Diese Geschichte schrieb im Jahre 1986 die dann 82-jährige Anna, meine Oma, in ihren Memoiren nieder, um die sie meine Schwester Veronika gebeten hatte. Am Ende der Geschichte ermutigt meine Großmutter meine Schwester dazu, die Erinnerungen auch mit anderen Menschen zu teilen, weshalb ich mich entschlossen habe, am 100. Todestag meiner Urgroßmutter damit zu beginnen, Omas Geschichte in wöchentlichen Episoden zu veröffentlichen.

Um jeden Sonntag die neueste Episode lesen zu können, empfiehlt es sich, den Blog AnnasGeschichte.blogspot.com zu abonnieren, die Facebookseite AnnasGeschichte zu liken oder dem Instagram-Account Annas_Geschichte zu folgen.

Meine Großmutter schrieb ihre Memoiren nicht auf schönes, teures Papier, sondern - ganz typisch für ihre Generation - in ein altes, unbenutzes Kalenderbuch der Eisenbahn (siehe Foto). Diese 45 Seiten, gestochen scharf in einer Mischung aus Latein- und Kurrentschrift nieder geschrieben, sind eine wundervolle Erinnerung an meine Oma.

Aber ihre Memoiren sind nicht nur Teil unserer Familiengeschichte, sondern viel mehr ein lebendiges Zeugnis über die Lebensweise im ländlichen Österreich des 20. Jahrhunderts, voller Entbehrungen und Katastrophen, aber auch voll Hoffnung und Zuversicht, Zufriedenheit und letztendlich dem Entkommen der allerbittersten Armut.

Doch lest selbst...