Sonntag, 7. Juni 2020

Episode 3 - Frühsommer 1920

"Pfiat di Gott und bleib brav..."


Sterbebucheintrag Theresia Pernerstorfers, 24.05.1920 (Foto: privat)

Ein Jahr danach, im Sommer, tauchte plötzlich mein Vater auf, kam zur Bäurin und sagte, er holt mich, da er mich dringend benötigt, da seine Frau einen Sohn geboren hat und sie ist schwer krank. Der Bauer wollte nicht einwilligen, da ja Sommerzeit war, doch es half ihm nichts. Vater war sehr energisch, ich durfte nicht mal mehr zur Großmutter Abschied nehmen gehn. Nur in den Pfarrhof gingen wir, um Taufschein und Sittenzeugnis. Ich ging noch schnell zu diesem Priester Abschied nehmen. Er war ganz verblüfft und ermahnte mich mit einigen guten Worten und Ratschlägen. Auch sagte er, wenn ich Rat brauche oder Hilfe, kann ich ihm schreiben. So fuhr ich halt mit Vater nach Urfahr.

Das war Juni 1920, im Mai dieses Jahres starb meine richtige Mutter mit 36 Jahren. Sie starb plötzlich. Sie hatte seit ihrem 17. Lebensjahr Epilepsie. Da war sie bei einem Bauern im Dienst, und ein Knecht wollte sich einen Spaß erlauben. Sie war damals 16 oder 17 Jahre alt. Früher gab es so Brunnen, man mußte ziehen, wenn man in der Küche oder im Stall Wasser brauchte. Und Mutter mußte abends, als es schon ganz finster war, Wasser ziehen. Dieser junge Knecht wickelte sich in ein Leintuch, als es schon ganz finster war, und stellte sich hinter das Brunnenrohr. Als Mutter ziehen wollte, schoß er hervor. Mutter erschrak so sehr, daß sie sogleich umfiel. Es kam ihr Schaum vorm Mund, ihr ganzer Körper bebte. So ging es ihr einigemale.

Ich weiß nicht, ob sie damals medizinisch betreut wurde. Großmutter sagte mir, sie hatte 7 oder 8 Jahre keinen Anfall mehr. Dann war sie in Schwertberg bei einem Fleischhauer im Dienst, da kam um vier Uhr morgens ein Rauchfangkehrer in ihr Zimmer, denn er wollte rauchfangkehren, da das Türl zum Rauchfang in ihrem Zimmer war. Da erschrak sie dann wieder so, daß sie den Anfall bekam. Ich war damals schon 7-8 Jahre alt.

Dann wiederholten sich diese Anfälle sehr häufig. Sie war öfters bei Großmutter daheim. Sie war oft sehr zerschlagen, wenn sie so unglücklich fiel. Der Knecht, welcher sie so erschreckte, den hat kurze Zeit später ein Zug überfahren. Dies erzählte mir Großmutter.

So war es am Pfingstmontag im Jahr 1920, ich ging zur Großmutter. Mutter war im Schloß Marbach als Magd damals. Sie ging auch zur Großmutter. Wenn ich mit Mutter zusammen war, hatte ich immer so große Angst, sie bekommt wieder den Anfall. Ich bin damals bald gegangen, ich weiß noch so gut, wie sie damals gesagt hat: "Pfiat die Gott und bleib brav!" - das hat sie ja nie gesagt.

Nach ein paar Stunden erhielt ich die Nachricht, sie bekam am Heimweg den Anfall, fiel am Mund und mußte ersticken. Für mich war es ein Schreck, aber nicht so ein Leid, denn ich hatte ja soviel Angst vor ihr. Als sie wieder einmal zu Hause bei Großmutter war, lief ich weg zu einem Bauer, wo Großmutter oft arbeitete. Die hatten eine Tochter, ungefähr so wie ich, dort blieb ich über Nacht.

Hätte Mutter noch gelebt, würde es Vater nicht gewagt haben, mich zu holen. Ich war aber in Urfahr sehr unglücklich. Man schrieb mit bald, Großmutter wurde krank vor Leid um mich. Ich war ja ganz fremd, hatte niemanden ausser Vater, die kranke, lungenkranke Stiefmutter und das 6 Wochen alte Baby, und einen sechsjährigen Halbbruder.

Nach einigen Wochen sagte mein Vater, er will mich in die Zigarrenfabrik bringen, daß ich etwas verdiene...


Anmerkungen des Verfassers:
Die Einträge im Totenbuch (siehe Foto) lauten wie folgt:
Jahr: 1920
Monat, Tag und Stunde des Todes: Mai 24., halb 5 Uhr nachmittags
Monat, Tag und Stunde des Begräbnisses: Mai 27., 8 Uhr vormittags
Ortschaft und Hausnummer: wurde in der Nähe des Riebergerhauses tot aufgefunden
(Der "Rieberger" sollte im weiteren Leben meiner Großmutter noch eine entscheidende Rolle spielen.)
Verstorbene: Theresia Pernerstorfer, Dienstmagd im Schloss Marbach 1, geb. und gest. Ried bei Mauthausen
(Im Jahr 1932 wurde aus dem Dorf Ried bei Mauthausen der Markt Ried in der Riedmark)


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