Sonntag, 12. Juli 2020

Episode 8 - Die Nachkriegszeit - 1945 bis 1954

"Wenn ich zum Höller wann immer auch komme, gibt es Kartoffel mit Sauerkraut..."

Hochwasser 1954, Steyregg (Foto: Heimatverein Steyregg)

So kam das Jahr 1945, man sah schon das grausige Ende kommen, nämlich die Hungersnot. Anfang Mai war es so weit. Bei uns marschierten zuerst die Russen ein, zu gleicher Zeit wurde in Mauthausen das KZ aufgemacht. Es waren nicht nur politische Gefangene, sondern auch Verbrecher dort. Es waren lauter Skelette, dies war ein schrecklicher Anblick. Es wurde geplündert, vom Konsum die Auslagenfenster eingeschlagen, Frauen vergewaltigt, von den Bauern Vieh gestohlen. Dies war alles so entsetzlich, bis nach kurzer Zeit die Amerikaner einmarschierten. Dann wurde es zusehends besser und sicherer.

Bevor der Umbruch war, schickten ja die Amis Pakete und Hilfsladungen mit Lebensmittel, Kleider, Arzneien nach Österreich, auch Steyregg wurde bedacht. Leider hab ich nie die kleinste Menge davon gesehen. Wir waren ja auf der Gemeinde schlecht benotet.

Anni und Greti gingen öfters zu den Bauern um etwas Milch, Eier, Brot oder Obst. Was ich nie vergessen werde: Greti brachte einmal vom Deßl - damals war Frau Panagl noch nicht verheiratet, sie hieß damals Deßl Rosie - einen ganzen Laib Brot heim. Was das für uns war kann niemand verstehn. Der Herrgott wird ihr den Lohn dafür geben.

Wir litten damals viel Hunger. Greti erzählte später oft, wenn sie von den Bauern heimkam, sagte ich oft, sie soll selbst Brot essen. Dann sagte sie oft: "Ich hab schon gegessen", obwohl es nicht wahr war, denn sie wußte, daß auch ich Hunger hatte.

Im Jahre 1945 war ich ja schon schwanger. Als die Schulen gesperrt wurden, sprach mein Mann zum verstorbenen Willinger, den wir gut kannten, ob nicht Friedl zu ihm arbeiten kommen könnte, damit er mehr zu essen hätte. Er hatte ja schon zwei so Burschen. Willinger sagte gleich zu. So hatten wir um einen weniger. Greti kam auch später hin.

Die ärgste Hungersnot war dann vorbei. Als am 18. August Peter zur Welt kam, bekam ich von Fr. Tritsch, welche bei Stumpf arbeitete, einen großen weißen Wecken. Dies war das erste Weißbrot, ich freute mich riesig darüber.

Die KZler waren ein Teil im Kindergarten, der ja geschlossen war, untergebracht. Dort brach dann die Ruhr aus. Es wurde dann bald geräumt. So kam dann bald der gewöhnliche Alltag zurück. Um alles in der Welt möchte ich so eine Zeit nicht wieder erleben. Wir, die solches erlebt haben, können wahrlich nicht begreifen, daß es möglich ist, daß es wieder Ansätze gibt, die solches Regime befürworten. Nach solchen Jahren der Angst und Enttäuschung ist es kein Wunder, glücklich und zufrieden zu sein, sich nicht mehr fürchten zu müssen vor dem nächsten Tag. Es war dies alles wie eine Befreiung.

Im August kam dann Peter zur Welt. Ich war sehr mitgenommen, der Arzt sagte, ich brauche unbedingt eine Kur und Erholung. Er redete mir zu, er sagte auch, er werde es veranlassen, daß ich das Baby mitnehmen kann, und die Kinder so wie der Mann werden schon die drei Wochen zurechtkommen. Friedl war ja schon im 16. Jahr, Anni im 14., Rosie 12, Greti 10 Jahre. Ich sagte auf keinen Fall zu, ich hatte ja niemanden, die Kinder mußten zur Schule. Ich hätte so keine Ruhe und Erholung gehabt. Der Arzt war etwas gekränkt, ich weiß, er hat es sicher sehr gut gemeint, doch was versteht ein Arzt von einer ärmlichen Familie? Ich war heilfroh, als die Debatte zu Ende war.

Ich fühlte mich unendlich glücklich und wohl bei meiner Familie. Auf eines kann ich mich noch erinnern, als wir so große Not hatten: einmal wußte ich mittags wirklich nicht, was ich kochen sollte. Ich setzte mich ins Schlafzimmer und weinte herzlich, dann kam mein Mann herein, fragte ganz erstaunt, was los ist. Ich sagte: "Ich hab nichts zu kochen, ich weiß nicht mehr was ich tun soll!" Dann sagte er: "Geh, Erdäpfel wirst du ja doch haben." So hab ich halt Erdäpfel gekocht. 

Hr. Pfarrer Ritzinger kam oft, meistens einmal in der Woche. Einmal sagte er: "Wenn ich zum Höller wann immer auch komme, gibt es Kartoffel mit Sauerkraut!" Ja, das war damals unsere Hauptmahlzeit, das wissen die Kinder heute noch.

Dies ist zur jetzigen Zeit ein so großer Gegensatz, wo so viele gute, wertvolle Sachen, seien es Lebensmittel oder Kleidung, überhaupt nicht mehr geschätzt werden, oft so gedankenlos vernichtet werden. Auch da bekommt man wieder ein Gefühl der Angst, ob dies so bleibt. Die Menschen schätzen ja diese kostbaren Güter nicht mehr. Es ist ihnen alles selbstverständlich. Ich hoffe und wünsche, daß meine Befürchtungen nicht wahr werden. Ich möchte es nicht mehr erleben. Auch das Streben nach Macht kann seinen Höhepunkt erreichen. 

So vergingen dann die Jahre in Frieden. Friedl trat nach der Matura ins Priesterseminar ein, er hat von Kindheit an immer gesagt, er will Priester werden. 

Anni hatte eine gute Hand zum Nähen, die wurde Schneiderin. Da hatte im Kindergarten die Schwester immer gesagt, sie wäre geeignet als Handarbeitslehrerin. Sie wollte es auch sehr gerne werden, doch leider reichten die Mittel nicht für ein zweites Kind zum Studium. Sie fuhr dann im Jahr 1953 für drei Jahre in die Schweiz, denn als sie ausgelernt hatte, wurde sie nach ein paar Jahren arbeitslos. Im Jahre 1956 hatte sie dann geheiratet.

Rosie kam auch mit 14 Jahren schon in den Dienst, später kam sie nach Wels, dann nach Linz ins Krankenhaus, wo sie im Jahr 1958 heiratete.

Friedl hatte im Jahr 1954 Primiz. Es waren große, erhebende Tage, doch überschattet vom Hochwasser, das größte, was wir bis heute erlebt hatten. Manche Gäste konnten nicht kommen. Zwei Tage vorher wußte man noch nicht, ob der Primizient kommen kann. Bahn und Straße war voll Wasser, in Steyregg arbeiteten die Arbeiter an der Kanalisation. Gerade die letzten Tage vor der Feier gruben sie vor unserem Haus auf, und täglich der Regen, es war ein großer Schlammhaufen. Mein Mann hat sich so geärgert, der war schon ganz krank. Wir glaubten, der Bürgermeister hat das aus Bosheit so angeschafft, die hätten ja wo anders auch graben können. Doch es wurde dann doch ein recht schönes Fest. Solche Tage sind Marksteine im Leben einer Mutter.

Vater wurde bald darauf krank und war im Krankenhaus...


Anmerkungen des Verfassers:
Wie aus den Lebenserinnerungen meiner Großmutter erkennbar, waren meine Großeltern keine Freunde der Nationalsozialisten. Nichtsdestotrotz ist ein Begriff wie "KZler" aus heutiger Sicht unangebracht, gehörte aber leider zur damaligen Zeit zum üblichen Sprachgebrauch. Kurioserweise schrieb meine Großmutter ihre Lebenserinnerungen im Jahr 1986, dem Jahr, in dem gerade in Österreich aufgrund der so genannten "Waldheim-Affäre" ein Umdenkprozess bzgl. der Rolle Österreichs und dessen Bürgerinnen und Bürger im Dritten Reich begann.

Da im Jahre 2015 die (mittlerweile eingestellte) rechtsextreme Zeitschrift "Die Aula" in einem Artikel die Befreiten der Konzentrationslager pauschal als "Landplage" bezeichnete, entwickelte sich in Folge dessen eine Diskussion über die Verharmlosung der Verbrechen des Dritten Reiches und einer Opfer-Täter-Umkehr, die die historischen Tatsachen negiert. Ich habe mich deshalb an das Mauthausen Memorial bzgl. der Veröffentlichung der erwähnten Übergriffe der KZ-Überlebenden in Steyregg gewandt. Herr Dr. Andreas Kranebitter, Leiter der Forschungsstelle des Mauthausen Memorial, gab mir dankenswerter Weise in meiner Einschätzung, die Passagen ungekürzt zu veröffentlichen, recht. Aus seiner Stellungnahme darf ich folgende Passage zitieren:

"Die Befreiung der Konzentrationslager ist natürlich seit Jahrzehnten ein heikles Thema. Es gab Szenen der Freude und Befreiung, Brüderlichkeit und Solidarität, es ist aber auch kein Geheimnis, dass es zu Übergriffen wie den beschriebenen gekommen ist. Hans Marsalek hat etwa (als Zeitzeuge und Chronist des KZ Mauthausen) in seinem bereits früh veröffentlichten Buch ausführlich und offen davon berichtet. Die Frage ist eben immer, wie man darüber berichtet."

Ich darf zu diesem Thema darüber hinaus folgende interessante Links empfehlen:

Mauthausen Memorial:

Zeitzeuge Hans Maršálek:

Amazon - Hans Maršálek: Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen

Mosaik - Artikel von Dr. Andreas Kranebitter über die "Rechtsbrecher" des KZ Mauthausen:

Gusen Memorial:

Addendum - aktueller Podcast zum KZ Gusen:

Surviving Gusen - Dokumentarfilm, derzeit noch unveröffentlicht:

Die "Waldheim-Affäre":